08. Jni 2008 - Pippo Pollina & Linard Bardill in der Alten Kelter in Besigheim

Vom switchen...
von Christel Amberg-Wiegand

Gestern noch in Ulm mit Konstantin Wecker und Band auf der Bühne, heute mit Linard Bardill in der Besigheimer Alten Kelterhalle. Die ist liebevoll und mit Gespür für das was man tun muss und besser lassen sollte restauriert zu einem rustikalen Saal. Er strahlt Kraft und Ruhe aus. Auf der großen Bühne ein Flügel, zwei Stühle, zwei Gitarren, ein bisschen Technik und für’s mediterrane Feeling zwei Olivenbäume rechts und links. Mehr ist unnötig. Pippo Pollina und Linard Bardill füllen die Bühne und den Saal voll und ganz durch ihre Anwesenheit. Dieses Wochenende steht also ganz im Sternzeichen Pippo Pollina.

Ich rätsele darüber, ob und wie er sich umformatiert hat, den richtigen Hebel umgelegt, und was sehe ich und höre ich wohl dabei? Ist es ein oberflächliches Umspannen der Ströme, oder geht es tiefer bis auf den Grund? Später weiß ich: alles richtig gemacht, Frage berechtigt aber unbegründet. Denn die Antworten darauf geben schon die ersten Takte von Insieme. Wie er am Flügel da hineinpräludiert, fällt alles Schwere von mir ab und es bleibt Leichtigkeit. Gestern noch hörte ich eben diesen Titel in einer völlig anderen musikalischen Aufmachung, da wurde gerockt und gerollt – fast undenkbar, aber irgendwie auch passend. Jetzt höre ich es in Minimalarrangement: Pippo sitzt am Flügel während Linard mit geschlossenen Augen lauscht und es förmlich einzusaugen scheint. „Freund, bleib einen Augenblick noch hier“, eine Freude für jeden, der auch mit den Augen hört. Ein herzlicher, sehr begeisterter Applaus heißt die beiden willkommen.

König Fußball ist schuld, dass nicht so viele Besigheimer hierher gefunden haben. Dabei ist die Audienz bei diesen beiden Freunden und Vollblutmusikern tausendmal wertvoller, echter, näher. Und die nehmen es mit Humor: dass es überwiegend Frauen sind, klar, die finden Fußball blöd und brauchen eine Alternative. Beruhigend, sie empfinden es also keineswegs als Notopfer. Gegen das Elf-Freunde-müsst-ihr-sein-Spiel setzen sie Compare. „Eigentlich machen wir das nur für uns“, verrät Linard, „weil wir uns so wenig sehen und deshalb so eine Polarität entsteht, aber ihr dürft zuhören“. Die klein-babylonische Sprachenvielfalt der Schweiz ist bei ihnen nicht gespieltes Programm, sondern Normalität. Gelebte Geschichte in einem Hör- und Sehspiel, mit einem Augenzwinkern, aber nicht oberflächlich, versteht jeder: Naturalizzazione geht schief, wenn es dazu führt, dass man weder da noch dort hingehört und vereinsamt. Dass das auf edlen Hochglanz und Perfektionismus getrimmte Image im auch nicht immer nur harmonischen Vielsprachenstaat Schweiz auch Kratzer hat, verpacken sie in eine feine hintergründige Geschichte mit höchstem Spaß- und Unterhaltungswert. Nicht etwa mit erhobenen Zeigefinger, nein, sie machen es auf ihre Art in einem kleinen Geniestreich mit dem Lied in C-Dur höchst unterhaltsam und extrem augen- und ohrenfreundlich: zweigitarrenliedermacherlike echot Pippo immer wieder Linard und ihm blitzt dabei der Schalk aus den Augen – doch allem Witz zum Trotz, die Realität sehr treffend gezeigt, nämlich im Grundton langweilig.

Pippo und Linards Freundschaft ist ganz offensichtlich ausgeglichen. Die beiden stehen - jedenfalls im übertragenen Sinn - auf Augenhöhe, jeder kann den anderen sein lassen. Sie sind sich einfach vertraut miteinander und hören nicht auf, sich über alte Geschichten und weißt-du-nochs zu freuen und darüber zu lachen. Schön, dass sie uns dran teilhaben lassen! Linard bewegt sich in Pippos Liedern wie in einem vertrauten Raum und umgekehrt. Da ist die Harmonie hörbar. Das ist wohltuend normal, ohne Firlefanz und Gedöns. Die Lieder bekommen einen neuen Glanz, eine Farbe, eine Wärme, eine Tiefe, die auf jeden Fall durch viel viel mehr als nur durch switchen entsteht. Etwas in Pippos Stimme ist immer seehr aufregend, Linards irgendwie so aufrecht und zusammen sind sie einfach umwerfend wie im Titel Signora, da ist 1 und 1 = 1. Und in diese magische Stimmung hinein liefert mich, sich, uns, Pippos Siamo angeli aus. Er legt sich bloß, legt uns Seele und Herz zu Füßen, so verletzlich, so berührend, leise, zärtlich, aufwühlend, dass es weh tut. Irgendwo in mir flattern Schmetterlinge, tanzen auf der Haut, eine Intimität, dass mir die Brille beschlägt. Tief durchatmen.

Es macht so viel Freude mitzuerleben, dass die besondere Atmosphäre der Premiere damals in Zürich bis heute erhalten geblieben ist. Der Alltag hat den Zauber nicht aufgesaugt in seinen großen Schlund. Das Programm wurde nur leicht geändert, vielleicht dem „großen Kanton“ geschuldet.

Nach Camminando gibt es folgerichtig ein Ancora Camminando, wunderschön, am liebsten Zeit anhalten und auf jeden Fall in den Herzen mit nach Hause nehmen. Das Publikum ist längst schon drin, nicht nur nah dabei. Es steigert sich in Beifallsbekundungen mehr und mehr. Heiweh/Highway ist ein Gassenhauer. Mitsingen - zunächst energiesparend, dann immer mehr mit schwäbischem Elan, anglo-allemannisch sprachgefärbt, Heiweh nach der Welt…

Ich wiederhole mich gern, alle Lieder sind Höhepunkte und dieses besonders: Il giorno del Falco ist ein Masterpiece aus Pippos Feder, weil darin ein Satz Victor Jaras zitiert ist, der so etwas wie ein Vermächtnis ist „… ich singe, weil die Gitarre Verstand hat und Gefühl“ und diese lange Reise, die die beiden vor Ewigkeiten angetreten haben, bedeute auch, dieses Geheimnis zu ergründen. Schon deshalb ist dies ein „gewichtiges“ Stück Gemeinsamkeit.

Pippos Solopart ist Neuland für die Ohren. Oder doch nicht? Er erfindet sich immer wieder neu. Das Publikum honoriert es mit großer Aufmerksamkeit und Anerkennung, es lässt nämlich den letzten Ton endlos schweben, bevor ein Applausorkan einsetzt. Kleine, kostbare Momente sind das. Das zweite Solostück ist ganz ungewohnt, eigentlich ohne „richtigen“ Text, mehr so angedeutete Lautmalerei und hat eine ungeheure Sogwirkung. Als dann Linard applaudierend auf die Bühne zurückkommt, beschenkt der uns wie nur dr es kann, der in seiner Sprache denkt, fühlt und singt, so wie er ganz in sich mit geschlossenen Augen seinen ganzen Körper und seine kräftigen Hände sprechen lässt. Sein Herz liegt auf der Zunge in diesem Liebeslied an seinen ältesten Sohn: „Ich liebe dich für immer und ewig und wo immer du hinkommst, meine Liebe wird schon dort sein und auf dich warten“. Und er scheut sich nicht, von den Telefontränen zu sprechen, die es einst gab. Mit mindestens ebenso viel Liebe singt er auch von seinem Rägebogebuddha, dem jüngsten Sohn, von dem als Geschenk des Lebens an das Leben er so viel lernt und für den das Jetzt und sonst nichts zählt.

Auf einmal wird der Saal ganz klein, der Raum ganz eng. Linard entführt uns in ein fast nicht mehr vorhandenes Stück Welt in seiner Welt: eine Sprachkultur - Rätoromanisch - verschwand in kürzester Zeit nahezu vollständig, weil die Einflüsse von außen und die mangelnde Präsenz von innen die feindliche Übernahme erleichterte, erzählt er. So ist nur ein kleines Fleckchen Erde übrig geblieben, Tamangur, eine Landschaft voller Kraft und Ursprünglichkeit mit riesigen alten Bäumen. Dies nachzuerleben gibt Linard alles von sich her: er steht am Bühnenrand mit nichts, was ihn schützen könnte, hundertprozentig unplugged, und singt dieses Lied wie ein Gebet an sein Ur-Land. Gänsehautbrandung.

Es gäbe noch viel zu erzählen, dass sie Terra spielten – habe ich auch am Abend zurvor ganz anders gehört, beides hat 100%ige Daseinberechtigung - und auch Plötzlich! Sie bringen es diesmal in Deutsch und da klingt es ganz anders, weil sonst die Sprache nicht funktioniert, und es verliert nicht an seinem Kern: viele Fragen und nur ganz wenige Antworten. Es gibt standing ovations dafür und mehr! So viele Eindrücke, so viel Gefühl strömt an so einem Abend auf mich ein. Milchstraßenlang könnte es dauern. Es dauerte nur bis Camminando, gut zweieinhalb Stunden. Besiegelt von einem nicht enden wollenden, ein bisschen traurigem Applaus. Pippo und Linard kommen mehrmals zurück auf die Bühne, gehen dann irgendwann endgültig - immer noch von Applaus umarmt. Camminando….

So war das. Doch die beiden können es viel besser in ihren eigenen Worten und mit ihren eigenen Mitteln erzählen. Deshalb: jedem, der die beiden wieder oder neu entdecken möchte, sei die CD wärmstens ans Herz gelegt. Ein must-have, ein endlos-player-Kandidat. Die Titel sind live genommen, vom Bühnenleben abgezapft. Da ist nichts dran geschönt, gefriggelt und geschraubt und deshalb von unwerfender Natürlichkeit. Alles was Di Nuovo Insieme auch im Wortsinn ausmacht, ist hörbar festgehalten und in Top-Qualität auf diesem Silberling konserviert. Also – Mail an Pippo Pollina info@pippopollina.com, mit den üblichen Bestellkoordinaten natürlich, d.h. Lieferadresse, oder die Zeit vertändeln bis zu den raren Sommerterminen und dann Direktabnahme vom Erzeuger.

Christel Amberg-Wiegand für www.erlebtemusik.de

Fotoalbum